Wie aus einer anderen Welt.

„Turandot“. Peking, Zentrum der Macht. Märchenzeit trifft Gegenwart: Der taiwanesische Regisseur Juan-Hsiung Li führt in seiner Inszenierung eindrücklich vor Augen, wie zeitübergreifend ähnlich sich persönliche Obsessionen und ideologische Disziplinierung sind, wenn sie aus kollektivem Leid heraus wahrgenommen werden. Chinesische Neuzeit, mit den Mitteln des Märchens erzählt.

Vor dem Palast des Himmels hat sich eine Menge Volk eingefunden und wartet, hin- und hergerissen zwischen Sensationsgier und Angst, auf die Hinrichtung eines jungen Prinzen, des vorerst letzten in der Reihe der Königssöhne, denen die Rätsel der Turandot zum Verhängnis wurden.
Wie in anderen seiner Opern sieht Puccinis Partitur das Erscheinen von Kindern vor, den Coro di Ragazzi. Juan-Hsiung Lis Ausdeutung zeigt ihn als eine Gruppe blinder Kinder, die sich in einer Art Prozession den Weg durch die aufgewühlte Menge ertasten. Diese verstummt betroffen bei ihrem Anblick. Während die gewaltigen Melodiebögen des Erwachsenenchors direkten Anteil am blutigen und rätselhaften Geschehen nehmen, kommentieren die Kinder, verdichtet wie in einem Haiku, den tiefen Sinn des Geschehens, an dessen Ende nicht nur die Erlösung Turandots stehen wird, sondern auch ihres in Angst und Argwohn erstarrten Volkes.

Immer wieder feilt Justine Wanat, Chorleiterin der Akademie, mit dem Bühnenchor an der Klangcharakteristik dieser Rollenzuweisung. Selbst beim Einsingen, kurz vor dem Beginn der Aufführungen, muss noch Zeit dafür sein. So werden die Jugendlichen ein letztes Mal auf Klangfarbe, Stimmvolumen, Reinheit der Intonation und auf den hohen Anspruch des Opernabends eingestimmt. Mit großer Wirkung: Jedesmal wieder, wenn die Menge der Schaulustigen verstummt, entfaltet sich der Gesang der blinden Kinder wie eine kunstvolle Blüte aus Seide und Silber.
Der Gegensatz zum robusten Auftritt der Straßenkinder in Bizets Oper Carmen und ihrer klangvollen, unbekümmerten Weltvergnügtheit könnte größer nicht sein. Beide Klangcharakteristika haben sich unsere jungen Sängerinnen und Sänger nun zu eigen gemacht. Und wenn sie aus dem hellen Licht des Welttheaters Oper zurücktreten ins Halbdunkel der Hinterbühne, nehmen sie dieselbe Erfahrung mit, die sie von ihren Konzertauftritten bereits gut kennen: die enge Verbindung von Anstrengung, Bewährung und Anerkennung.

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