Stimmen in Ausbildung

Vier Sängerinnen der Akademie für Chor und Musiktheater erringen Erste Preise bei „Jugend musiziert“ in der Sparte Sologesang

Manuel Wittazscheck

31. Januar 2020 / Beim Regionalwettbewerb erreichten Anna Mamutscharaschwili (AG:II) 24 Punkte, Alina Ju Tchin Simon (AG:V) 24 Punkte mit Sonderpreis, Elise Kliesow (AG:IV) 25 Punkte und Maria Shebzukhova (AG:V) 25 Punkte. Somit wurde jeder Teilnehmerin ein 1.Preis zuerkannt – den drei Letztgenannten mit der Weiterleitung zum Landeswettbewerb von „Jugend musiziert“. Gratulation zu dieser großartigen Leistung!

Das freundlich-nüchterne Fazit einer Leistungsbewertung. Etwas, an das man sich nun alle Tage bis zur feierlichen Urkundenüberreichung erinnern kann. Zur Vergewisserung, dass das alles kein Traum war. Die Erinnerungen: wie späte Schockwellen. Die Sekunden, in denen man das Treppchen zur Bühne nimmt, die wenigen Schritte zum Flügel macht. Dann dieses Schwarze Loch, durch das man in sich selbst stürzt, in dem sich auch alles Übrige in einem Energiepunkt verdichtet: die Auswahl der Lieder, das Erlernen, die Ratschläge, die Aneignung, das Einsingen, der Prüfungs-Saal. Beim ersten Anschlag des Flügels dann: Hochgerissen werden ins Licht, beim Klang der eigenen Stimme aber plötzliche Gefasstheit, wachsende Selbstgewissheit. Losgelöstsein: Hier muss ich durch! Und wie ein guter Hirte seine Schafe, treibt man die folgsame kleine Herde der Lieder dem Tisch der Juroren zu.

Da bleibt ein Lächeln wohl nicht aus: „Schockwellen? Schwarzes Loch? Ist das Bildhafte hier nicht etwas weit hergeholt?“ Das stimmt wohl. Doch welche Tagesbegriffe treffen schon bei hochemotionalen Momenten? Und Singen vor Zuhörern ist immer hochemotional! Auch „Lampenfieber“ ist schließlich kein medizinischer Fachbegriff. Wie also Worte finden für Vorgänge jenseits des Sagbaren? Wie lassen sich überhaupt die Gefühlszustände eines Musizierens beschreiben, bei dem man gleichzeitig Musikant und Instrument ist?

Leider ist über den Preisverleihungen des Regional-Wettbewerbs eine dunkle Fermate notiert, überlang und übergriffig: Covid-19 lässt, wie so vieles, auch Landes-und Bundesausscheidungen von „Jugend musiziert“ verfallen. Tröstlich bleibt der Gedanke an das „Nächste Mal“. Bis dahin wird uns genug Zeit bleiben, die Stimmen wachsen zu lassen und über das Singen nachzudenken. Zeit vielleicht sogar für einen Rundgang durch eine Gesangswerkstatt? Einfach mal reinschauen: Wer ist dort Instrument, wer Instrumentenbauer? (Wir merken … es wird auch ein Spaziergang durch eine ganze Reihe bildhafter Begriffe sein)

In der ersten Abteilung fliegt uns sogleich überschüssige Luft um die Ohren! Das typische Merkmal des Anfängertons. Das Handicap: Der Singende hört es nicht – er hat doch immer so gesungen … vielleicht sollte er es mit dem Singen besser bleiben lassen? Aber nein, das AusbilderTeam der Werkstatt sieht das ganz anders: Die Stimme ist nur von „zu viel Atem umflort“ und ihr optimaler Klang bleibt darin „versteckt“.

Die Aufgabe wird also sein: Sammeln und Konzentrieren der ungenutzten Luft, um auch diese in Klang umzuwandeln. Womit gleich drei wesentliche Effekte erreicht werden: Mehr Stimme! Mehr Kraft! Und … nie mehr das Gefühl der Atemlosigkeit!

Wo wohnt die Stimme? Wo ist der Ort, an dem man sie anfassen kann, wo der berühmte Ansatz? Selbstversuch: Wir holen Atem. Langsam und tief. Halten ihn plötzlich an, „setzen uns auf die Stopstelle“, geben sodann einen Laut frei und zwar „auf kleinster Einstellung“. Hier, quasi am Nullpunkt unserer Stimme, ist ihr Sitz. Wohnen aber wird sie eines Tages im ganzen Körper. Vom Kraftzentrum in der Leibesmitte bis hinauf ins Höhlensystem des Schädels – ein Klangkörper: und ein respektables Instrument.

Schauen wir auf die Stimmbildner. Sind sie die Instrumentenbauer? Sie verfügen über seltene Talente und seltsame Werkzeuge: Geduld, Analytisches Einfühlungsvermögen, Übersetzungsgabe – die Verbildlichung stimmlicher Abläufe für den Schüler. Schon bei Arbeitsbeginn öffnen sie einen ganzen „Werkzeugkasten“ spezieller Übungen. Zur Kräftigung der Stimme, ihrer Dehnung in Höhe und Tiefe, zur exakten Intonation, zum behutsamen Feilen an tonalen Barrieren, zur Angleichung der Vokale, zur Hebung des Gaumensegels bei gleichzeitiger Flachhaltung der Zunge, zur Umwandlung der Konsonanten von „Stolpersteinen“ zu „Sprungbrettern“. Jede Maßnahme zielt auf die Herstellung eines in sich ausgewogenen Stimmkörpers mit einer „von unten bis oben“ homogenen Klangentfaltung.

Im Zentrum seines Könnens steht also das intuitive Erfassen stimmtechnischer Produktionsabläufe. Der Stimmbildner fühlt die Klangerzeugung seines Schülers im eigenen Hals und spürt auch im eigenen Körper, ob der Schüler beim Singen gerade einen kraftvollen Prozess durchläuft oder möglicherweise schon ermattet. Er fühlt an sich selbst, wie die Machtlosigkeit der Körperstütze nach „oben kriecht“ und die Halsmuskulatur sich anstrengt, um den Kraftverlust auszugleichen. Das ist kein erstrebenswerter Zustand: Schnell abbrechen! Kleine Atempause. Fragezeit! Wie überhaupt stellt man sich „die Stimme“ vor?

Gute Frage. Anatomisch ist sie die Summe ihrer „Bauteile“, zuzüglich Luft. Wind. Atem. Der muß als „Tonträger“ stark sein wie eine Säule, also sprechen wir von der Atemsäule. Säulen beziehen ihre Stabilität aus ihrem Fundament. Daher: sicherer Stand der Beine. Darüber – die Muskulaturen der Körpermitte. Ihre Aufgabe: Die Stützung der Lunge, sodass die enorme Druckentfaltung nicht ganz allein „an ihr hängenbleibt“. Von hier aus steigt die Atemsäule durch die Luftröhre, erreicht den Kehlkopf, zwingt die beiden Stimmlippen auseinander, (die viel lieber dicht beieinander liegen würden) und lässt sie vibrieren. Das energetisiert den Atemstrom zu Klang, und bevor dieser den Mund verläßt, empfängt er durch die „Kuppel über der Säule“, die Kopfhöhlen, das, was ihn zur „tragfähigen Stimme“ werden lässt. Über der Bruststimme wölbt sich ab jetzt der Kopfklang: Volumen und Timbre, Klangmacht und Stimmfarbe. Wenn beides in Balance gebracht ist, bekommen unsere Stimmbildner glänzende Augen.

„So also geht Singen?!“ Bei der Frage unterdrücken die Experten ein Schmunzeln: Na ja, man könne damit sogar Töne wie ein Herkules hervorbringen. Aber das Instrument, das der Schüler im Vergleich mit der Säule kennengelernt habe, sei nur ein Apparat mit eingeschränkten Möglichkeiten. Deshalb sei auch jetzt die Zeit gekommen, dem Bild der Säule ein zweites hinzuzufügen: Das Bild der Fontäne eines Springbrunnens … wobei ihr starker Strahl die Vorstellung der Säule ablösen soll! Auf den Scheitelpunkt dieses „Atem-Strahls“ setzen wir nun die Stimme wie einen Ball obenauf. Der wesentliche Unterschied aber zeigt sich erst beim Blick auf das Fundament. Wir haben es ja als Kraft kennengelernt, deren Qualität ihre unbewegte Statik ist. Das verändern wir! Die Kraft, die das Wasser nach oben treibt, ist der Druck von unten. Die Konstrukteure von Wasserspielen setzen ein System von Druckreglern ein, um ihn stärker oder schwächer werden zu lassen. Der Singende macht dasselbe mit seinem Atem. Seine Regler sind die konditionierten Nerven und die trainierten Muskeln seiner Körpermitte: im Zusammenspiel ihres Anspannens und Entspannens schickt er dynamisierende Impulse „nach oben“. Ein kurzer Blick auf den „Ball“ – der reagiert darauf mit „Tanz“. Wir erkennen: die Vorstellung des „Balls auf der Fontäne“ legt beim Singen den Akzent auf die Flexibilität des ganzen Systems, ein Federn, das durch den ganzen Körper geht. Wobei die Stimme selbst als unbelasteter Klang wahrgenommen wird, mal ist sie ein „Schwebe-Ereignis“, mal ein „biegsamer Degen“, mal das strahlende „Schwert“, das in den Himmel stößt. Bei allem Reichtum ihrer Ausdruck-Facetten und Farb-Nuancen aber ist und bleibt sie für das Ohr des Zuhörenden Quelle reinen Entzückens durch ihre Loslösung von aller Körperschwere … die Muskelarbeit im Keller bleibt Geheimnis.

Auch am Ende unseres kleinen Rundgangs begegnen wir unserer Ausgangsfrage nach dem Instrument und seinem Erbauer. Die Antwort können wir uns nun gut zusammenreimen: Am Ende seiner Ausbildung ist natürlich der Sänger das Instrument in persona. Damals – vor Jahren also, hatte er lediglich interessante Voraussetzungen dafür mitgebracht. Diese hat sein Ausbilder analysiert, für ausbaufähig befunden und während des Fortschreitens der Arbeit einen „virtuellen Zwilling“ in sich selbst angelegt, um sich zeitgleich in die „klangerzeugende Funktionskette“ beim Schüler einzufühlen. Der Aufbau dieses virtuellen Instruments im Stimmbildner ist letztlich das Protokoll aller Rückschläge und Erfolge, mit denen der Schüler im Austausch von Wissen und Können, Trainieren und Wachsen seine stimmlichen Anlagen ausbaute. Das Ergebnis ist die kostbare, leicht störbare und daher stets neu zu befragende Einheit von Instrumentalist und Instrument. Der Stimmbildner aber tritt zurück und legt das virtuelle Abbild im Archiv seiner Erfahrungen ab.

Was aber Anna, Elise, Alina und Maria mit ihren Preisträger-Urkunden schließlich auf die Bühne des Schumannsaals geführt hat, sind die ersten Schritte in eine höhere Abteilung der Gesangsausbildung: die Erforschung und Aneignung des gesungenen Wortes. Sie lernen gerade: Alles Singen ist zugleich auch ein Eintauchen in die Welt der Sprache, der Bilder, in denen alles Wesentliche hinterlegt ist, Liebe, Freude und Trauer, Kurioses auch, das ganze menschliche Abenteuer. Hier geht es in erster Linie nicht mehr um körperliche Prozesse, vielmehr sind nun seelische und psychologische Komponenten am Werk: Gefühlstiefe und ausdeutende Intelligenz. 

Gesang muß in seiner letzten Ausbildung einen Widerspruch versöhnen. Er muß die Dinge des Lebens „beim Wort nehmen“, an den Ort jeden Geschehens hinauf- oder hinabsteigen und alles, was immer ihm dabei abverlangt wird, mit aller Leidenschaft, deren er fähig ist, bezeugen und dokumentieren. Gleichzeitig aber ist der Gesang der menschlichen Stimme das berufene Instrument, die Dinge aus ihrer konkreten Beschränkung in einen Bereich zu heben, wo sie teilhaben am Allgemeingültigen, als der gereinigte Ausdruck alles Wahren.